Corona, die extreme Rechte und der “Tag X”

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Das Konzept des “Tag X” geistert schon seit Jahrzehnten durch die extrem Rechte Szene. Schon in den 90er-Jahren bereiteten sich rechtsextreme Aktivist*innen u.a. aus dem Umfeld des “Thüringer Heimatschutzes” – aus dem später der NSU hervorging – auf den Tag vor, an dem die öffentliche Ordnung zusammenbrechen, man in einem “Rassenkrieg” die Macht übernehmen und letztlich das NS-Regime wieder auferstehen lassen könne. [1] In jüngerer Vergangenheit kursierte das Konzept in den Planungen des sogenannten “Hannibal”-Netzwerkes, eines Zusammenschlusses aus ehemaligen Elite-Soldaten, Polizisten und Personen mit Verbindungen zur AfD. [2] In beiden Fällen trat der “Tag X” – wie zu erwarten – nicht durch ein äußeres Ereignis ein und es gab auch keine (erfolgreichen) Versuche, ihn selbst herbeizuführen.

“Querdenken” als neues altes extrem rechtes Milieu

Zu Beginn der Corona-Pandemie blieb es innerhalb der bisherigen extrem rechten Szene erstaunlich still, obwohl die Pandemie in der Theorie eigentlich ein geeignetes externes Ereignis zum Auslösen des “Tag X” gewesen wäre. Stattdessen bildeten sich in Folge des Aufkommens der “Querdenken”-Gruppen personell zum Teil neue Milieus, in denen das Konzept “Tag X” immer wieder eine Rolle spielte und die ideologisch an die extrem rechten Traditionen der Vergangenheit anknüpften. So wurde zu mehreren Demonstrationen (u.a. im Herbst 2020 und Sommer 2021, siehe [3], [4], [5]) unter diesem Motto mobilisiert, auch wenn der gewünschte Umsturz selbstredend ausblieb.

Die Radikalisierung ist noch lange nicht vorbei

Würde die Corona-Pandemie nun einfach auslaufen und verschwinden, dann wären das alles “nur” weitere Episoden in der Historie rechtsextremer Mobilisierung in Deutschland. Doch leider stehen wir derzeit vor einem ganz anderen Szenario. Die Infektionszahlen sind auf neuen Höchstständen, ein Kollaps der Intensivversorgung droht und neue Maßnahmen zur Kontaktreduzierung wurden eingeführt oder müssen wahrscheinlich zeitnah eingeführt werden. Da die allermeisten Patient*innen auf der Intensivstation ungeimpft sind, steht die Einführung einer Impfpflicht zur Debatte, so wie das in Österreich schon beschlossen wurde. Gleichzeitig richtet sich die Wut der geimpften Bevölkerung nachvollziehbarer Weise immer mehr gegen den ungeimpften Teil.

Diese Sachlage könnte beim harten Kern der “Querdenken”-Bewegung dazu führen, dass man sich endgültig in einem “Krieg” gegen den Staat und den geimpften Teil der Bevölkerung wähnt. Schon zuletzt gab es vermehrt Gewalttaten aus der Szene, unter anderem der Mord an einem Tankwart in Idar-Oberstein oder gerade erst an diesem Wochenende Brandstiftung an Testinfrastruktur im Landkreis Münster. [6] Auch wenn sie nicht direkt miteinander vergleichbar sind, zeigen auch die Ausschreitungen in Rotterdam und am Rande einer großen “Querdenken”-Demo in Wien das Gewaltpotential der Szene. Auffällig ist auch die schon seit Monaten immer weitere vorangetriebene Verflechtung der Szene mit den “klassischen” rechtsextremen Kräften. Zu der Demo in Wien hatte die FPÖ aufgerufen, anwesend waren wohl auch Gottfried Küssel, sein Umfeld und Teile der deutschen extremen Rechten.

Auf dem Weg in den Terrorismus?

Es steht deswegen zu befürchten, dass – insbesondere im Angesicht einer Impfpflicht – einige Akteur*innen aus der “Querdenken”-Szene nun den nächsten Schritt in ihrer Radikalisierung gehen, aufgrund eines imaginierten “Tag X” selbst gewalttätig werden – und eben nicht mehr nur bloß zur Demo gehen. Aus ihrer Sicht ist das Notwehr, in Wirklichkeit ist es Terrorismus. Eine Kommandoebene oder anderweitig geführte, feste terroristische Strukturen muss es dabei nicht geben. Die in der extrem rechten Szene bereits erprobten Konzepte des “führerlosen Widerstands” (NSU) und des “stochastischen Terrorismus” (Anschläge in Halle, Hanau; [7], [8]) reichen vollkommen aus.

Problematisch ist dabei auch, dass die Radikalisierung viele Menschen betrifft, die bisher für die Sicherheitsbehörden völlig unbeschriebene Blätter sind. Es ist deswegen nicht leicht, Gefahren auszumachen und Anschlagspläne rechtzeitig zu unterbinden. Darüber hinaus ist völlig offen, was mit einem recht großen und sich immer weiter radikalisierenden Milieu von Maßnahmen- und Impfgegner*innen, das die Brücken zum Rest der Gesellschaft schon jetzt größtenteils abgebrochen hat, langfristig passiert. Aufgrund der in vielen Teilen antisemitischen, verschwörungsideologischen und auch offen demokratiefeindlichen Ideologie muss befürchtet werden, dass dort auch langfristig ein Habitat für weitere Radikalisierung und neue terroristische Gruppen entsteht.

Keine Rücksicht auf “Querdenken”…

Die Lösung dieser Probleme kann jetzt jedoch nicht sein, noch mehr Rücksicht auf eine antisemitische und demokratiefeindliche Bewegung zu nehmen. Die Rücksicht auf die Schwurbler hat der geimpften Mehrheit der Bevölkerung schon genug Freiheit, Glück und Lebensfreude gekostet. Aus meiner Sicht sind neben der akuten Pandemiebekämpfung Maßnahmen, die dafür sorgen, dass defacto alle Menschen in Deutschland, für die ein Impfstoff zugelassen ist, geimpft werden, spätestens mittelfristig unumgänglich. Wie das dann rechtlich und praktisch genau aussieht, ist eine andere Sache, eingeführt werden müssen sie trotzdem.

…stattdessen endlich ernsthafte Bekämpfung der extremen Rechten!

Doch gerade weil das notwendig sein wird, müssen wir die Folgen auf die weitere Radikalisierung der “Querdenken”-Szene ernst nehmen. Das bedeutet, dass “Verbrüderungsszenen” mit der Polizei, wie sie teilweise zu beobachten waren [9], endlich und endgültig abgestellt werden müssen. Demonstrationen, bei denen die Auflagen eklatant und planvoll verletzt werden, müssen aufgelöst werden. Das sind aber nur die Basics. Allgemein müssen sich die Sicherheitsbehörden enger mit der Szene beschäftigen. V-Leute oder ähnliche äußerst problematische Maßnahmen dürften dabei gar nicht notwendig werden, da sich ein größerer Teil der Radikalisierung in offenen Telegram-Chats abspielt. Ob sich die Szene durch Aufklärung noch erreichen lässt, ist äußerst zweifelhaft. Deswegen werden repressive Maßnahmen an den meisten Stellen notwendig werden. Insbesondere ist es aber wichtig, schnell zu reagieren, wenn von der Szene der “Tag X” oder ein ähnliches Szenario offen, großflächig und glaubhaft ausgerufen wird.

Ein Patentrezept für den Umgang mit der Szene gibt es sicherlich nicht. Deswegen ist es umso wichtiger, die Lage ernst zu nehmen. Dieses Gefühl hatte ich zuletzt nicht, wenn ich mir das Handeln der Sicherheitsbehörden ansehe und das macht mir ehrlich gesagt ziemlich große Sorgen.

Quellen

[1] Wer sich detailliert über die Zustände in der damaligen extrem rechten Szene in Thüringen und Sachsen informieren möchte, dem sei das Buch “Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU” von Stefan Aust und Dirk Laabs empfohlen.
[2] Hierzu ist das Buch “Extreme Sicherheit” von Matthias Meisner und Heike Kleffner interessant.
[3] Bericht der Tagesschau
[4] Bericht von nd-aktuell
[5] Bericht des Tagesspiegel

[6] Bericht des RND
[7] Bericht der taz
[8] Bericht von allgäu-rechtsaußen

[9] Bericht von hna

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