Warum Konservative das 9-€-Ticket fürchten – und warum wir dringend eine Anschlusslösung brauchen

IMGP9694

„Gratismentalität“ wird einem vonseiten der FDP vorgeworfen, wenn man für eine Verlängerung des 9 €-Tickets oder eine sinnvolle Anschlusslösung wirbt. Vor allem Finanzminister Lindner, aber auch Teile der CSU überschlagen sich derzeit geradezu in Polemik gegen günstige ÖPNV-Tickets mit Netzwirkung. Dabei ist der 9 €-Ticket enorm beliebt und Pluspunkte beim Wahlvolk lassen sich mit Widerstand gegen eine Verlängerung kaum sammeln. Woher kommt also diese Abwehrhaltung?

Dafür gibt es sicherlich nicht den einen singulären Grund, sondern mehrere. Aber einer davon ist besonders wichtig: ein günstiges ÖPNV-Ticket mit Netzwirkung öffnet die Tür zu einer echten Verkehrswende. Und davor haben Konservative massiv Angst.

Industriepolitik statt Verkehrspolitik

Seit Jahrzehnten wurde im Verkehrsministerium eigentlich keine Verkehrspolitik gemacht, sondern stattdessen Industriepolitik. Alles wurde darauf ausgelegt, die Absatzzahlen der Autoindustrie zu optimieren. Einerseits durch massive Investitionen in autofreundliche Infrastruktur, andererseits durch so absurde Konstruktionen wie das derzeit wieder diskutierte Dienstwagenprivileg. Dabei wird die Nutzung hochpreisiger Neuwagen als Dienstwagen für den Privatgebrauch steuerlich subventioniert; die Autos werden alle ein oder zwei Jahre ausgetauscht und gelangen so auf den Gebrauchtmarkt, wo sie auch für Menschen mit etwas weniger Geld erschwinglich sind. Eine bessere Absatzförderung könnte sich wohl auch die Autoindustrie kaum ausdenken. Insgesamt subventioniert die Gesellschaft jedes Auto im Schnitt mit 5000 €, jedes Jahr. Hier herrscht echte Gratis-Mentalität.

Gleichzeitig trocknete die Bahninfrastruktur finanziell aus. Seit den 1990er-Jahren wurden tausende Kilometer Schiene stillgelegt und auch in die verbliebenen zu wenig investiert. Der ÖPNV ist in manchen Gegenden nicht vorhanden, in anderen zwar schon, aber eben doch nicht so gut ausgebaut, dass er mit der schnellen Fahrt mit dem Auto mithalten kann. Und (oft kostenfreie) Parkplätze gibt es ja eh genug. Darüber hinaus machen hohe Preise und ein kaum zu durchblickendes Tarif-Wirr-Warr den ÖPNV oft konkurrenz-unfähig und unbequem zu nutzen.

Kurz gesagt: ein Leben ohne Auto können sich viele kaum vorstellen. Der Autoindustrie gefällt das, dem Klima eher weniger. Denn in diesem Zustand wird der CO2-Ausstoß im Verkehrssektor kaum abnehmen.

9-€-Ticket: Zeitenwende der Mobilität

Das 9-€-Ticket oder eine vergleichbare Anschlusslösung brechen diese Strukturen auf. Viele Menschen haben erstmals einen einfachen und günstigen Zugang zum ÖPNV. Gerade ärmere Menschen können sich Mobilität nun überhaupt leisten. Der Schlüssel ist neben dem niedrigen Preis auch die einfache Nutzung: kaufen, einsteigen, losfahren. Das geht ansonsten nur beim Auto. Auch wenn bis jetzt noch nicht so viele Menschen umgestiegen sind (in drei Monaten ändern die wenigsten ihre jahrelangen Gewohnheiten, ein guter Verkehrsversuch braucht deswegen mindestens zwei Jahre), so würde ein dauerhaftes, günstiges Ticket mit landes- oder bundesweiter Gültigkeit für viele den ÖPNV wirklich konkurrenzfähig machen.

Gleichzeitig würde ein altes Mantra der Konservativen einen Großteil seiner argumentativen Grundlage verlieren: erst müsse der ÖPNV attraktiver werden, dann könnten Parkplätze abgeschafft oder teurer werden, Autospuren in Radspuren umgewandelt oder ähnliche Maßnahmen ergriffen werden, um Autofahren unattraktiver zu machen. Mit diesem Argument wurde seit Jahrzehnten der Umbau weg von autogerechten Städten hin zu Städten für Menschen verhindert. Oftmals waren die Verfechter*innen dieses Arguments dieselben, die den ÖPNV gleichzeitig kaputt sparten. So wie zuletzt bei der Talavera-Debatte in Würzburg: Die CSU in der Stadt forderte besseren ÖPNV auf dem Land, bevor der umstrittene Großparkplatz kostenpflichtig werden könne. Gleichzeitig regte die CSU im Landkreis eine Kürzung der Mittel für den ÖPNV an.

Für ein Ende der Vorherrschaft des Autoverkehrs

Gäbe es ein langfristiges Flatrate-Ticket für den ÖPNV, wäre dieser plötzlich sehr viel attraktiver und man hätte gar kein Argument mehr gegen den Abbau der Privilegien des Autoverkehrs. Gleichzeitig würden viele Menschen beginnen, den ÖPNV zu nutzen und seine Vorzüge kennenzulernen. Sicherlich würden viele – zu recht! – nach ihren ersten mittelfristigen Erfahrungen einen Ausbau fordern und wohl an vielen Stellen auch bekommen. Eine echte Verkehrsverlagerung würde beginnen. Davor haben Konservative am meisten Angst, denn das wäre der Einstieg in das Ende der Vorherrschaft des motorisierten Individualverkehrs in Deutschland.

Dieses Ende ist aber zwingend notwendig, um die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens einzuhalten. Um 50 % muss der Autoverkehr bis 2035 dafür zurückgehen, hat das renommierte Wuppertal-Institut ausgerechnet. Gleichzeitig müssten ÖPNV und Radverkehr entsprechend zunehmen. Dafür müssen wir erheblich mehr tun, als nur ein günstiges Ticket einführen. Aber dieses wäre der Beginn eines echten Systemwechsels in der Mobilität, ein Anfang den wir im Interesse kommender Generationen dringend brauchen. So erklärt sich der bisweilen grotesk wirkende Abwehrkampf von FDP und CSU gegen eine Anschlusslösung – und so erklärt sich auch, warum wir diese unbedingt umsetzen müssen. Das Klima und die Menschen werden es uns danken.

Verwandte Beiträge